Kolumne
In „Die stille Wahrheit“ teile ich Gedanken, die nicht laut sein wollen – aber klar. Ich schreibe über das, was unter der Oberfläche liegt: über alte Muster und stille Sehnsüchte, über den feinen Unterschied zwischen Anhaftung und Liebe, über das Loslassen, das heilt – und über das Bleiben, das befreit.
Die stille Wahrheit ist kein Ort des Wissens – sondern des Erkennens. Sie lädt dich ein, deine eigene Wahrheit zu fühlen. Und vielleicht, ganz vielleicht, ein Stück mehr du selbst zu sein.
Holger Carstens
Wenn Stille zur LehrmeisterIn wird: Über Distanz, Muster und die Natur der Liebe
Es gibt Zeiten im Leben, da fühlen wir uns fremd im eigenen Dasein. Wir leben, funktionieren, erfüllen unsere Rollen – und dennoch bleibt etwas leer, brüchig, unausgesprochen. Es ist, als würden wir einen inneren Ruf überhören. Einen leisen, doch drängenden Klang, der aus der Tiefe unserer Seele kommt: Schau hin. Sei still. Und erinnere dich.
Dieser Ruf wird oft erst hörbar, wenn wir innehalten. Wenn wir bereit sind, uns von der Oberfläche zurück- zuziehen – aus Gesprächen, Beziehungen, Routinen – und in eine stille Beobachtung gehen. Nicht aus Rückzug, sondern aus Sehnsucht nach Wahrheit.
Viele Menschen fürchten die Stille. Denn in ihr gibt es kein Ablenkungs-manöver. Keine Projektion, keine Rechtfertigung, kein Außen, das beschuldigt werden kann. Die Stille hält uns den Spiegel vor – gnadenlos und heilsam zugleich.
Wenn wir es wagen, Abstand zu nehmen – sei es von einem Menschen, einer Situation oder unseren gewohnten Denkweisen – entsteht ein Zwischenraum. Und genau in diesem Raum offenbart sich oft mehr Wahrheit als in tausend Gesprächen.
Wenn wir tiefer blicken, sehen wir, dass es nicht die Beziehung an sich war, die uns gefangen hielt – sondern das, was sie in uns berührte. Oft sind es uralte Muster, tief verankerte Überzeugungen, nicht geheilte Kindheitswunden. Vielleicht glaubten wir, Liebe müsse verdient werden. Oder dass Nähe automatisch Verlust bedeutet. Vielleicht lernten wir, dass wir uns anpassen müssen, um nicht verlassen zu werden.
Diese Programme wirken wie unsichtbare Fäden in unserem Leben. Sie lenken unsere Entscheidungen, prägen unsere Reaktionen und gestalten unsere Beziehungen. Wenn wir bereit sind, hinzusehen, beginnen sich diese Muster zu lösen – nicht, weil wir sie analysieren, sondern weil wir sie erkennen. Und erkennen ist der erste Schritt zur Befreiung.
Eines der größten Missverständnisse in unserem emotionalen Erleben ist die Verwechslung von intensiver Verbundenheit mit Liebe.
Wenn wir jemandem begegnen, der uns „erkennt“, spüren wir oft eine tiefe Resonanz. Es fühlt sich magisch an, wie ein Nachhausekommen. Doch oft ist es nur ein Wiedererkennen. Eine Resonanz alter Wunden oder unerfüllter Sehnsüchte.
„Die größte Liebe ist die, die keinen Namen braucht, keinen Besitz, keine Bedingung – nur Gegenwärtigkeit.“
Thich Nhat Hanh
Wir spüren das Kribbeln, das Feuer, das Drama – und nennen es Liebe.
Aber Liebe ist still. Liebe brennt nicht – sie leuchtet. Liebe kämpft nicht – sie erlaubt. Das, was wir oft für Liebe halten, ist ein starkes Band der Anhaftung. Ein Versuch, die eigene innere Leere durch einen anderen zu füllen. Doch Liebe beginnt nie im Außen. Sie entsteht im Raum unseres Herzens – dort, wo wir uns selbst begegnen. Sie ist ein Zustand des Seins, nicht des Habens. Sie ist wie ein innerer Strom, der fließt – unabhängig davon, ob jemand da ist, der sie „zurückgibt“. Sie ist ohne Absicht. Ohne Forderung. Ohne Bedingungen.
Diese Liebe kann in der Stille zwischen zwei Menschen existieren, ebenso wie im Abschied. Sie will nicht halten. Sie will nichts beweisen. Sie will sein. Liebe ist das Licht, das in uns brennt, wenn wir nichts mehr festhalten. Sie ist die Präsenz des Göttlichen in einem sterblichen Körper. Ein Raum, in dem alles willkommen ist – Schmerz, Freude, Schwäche, Schönheit. Ein Raum, in dem wir aufhören, zu werden – und beginnen, zu sein.
Wachstum beginnt dort, wo wir bereit sind, den Schatten nicht länger zu vermeiden.
Das bedeutet, alte Verletzungen nicht mehr zu betäuben, sondern sie ins Licht des Bewusstseins zu holen. Es bedeutet, sich einzugestehen: Ich habe geliebt, weil ich gebraucht wurde – nicht, weil ich frei war. Ich bin geblieben, obwohl meine Seele längst gegangen war. Ich habe gehalten, obwohl mein Herz schon losgelassen hatte. Diese Ehrlichkeit tut weh. Aber sie heilt. Denn jede Illusion, die fällt, macht Platz für Wahrheit. Und jede Wahrheit, die wir annehmen, macht uns frei.
Wenn alles andere vergeht – die Geschichten, die Rollen, die Emotionen – bleibt etwas zurück, das nicht benannt werden muss. Eine stille Weite. Ein friedvolles Dasein. Ein inneres Ja zum Leben, so wie es ist. Wir erkennen: Ich bin nicht meine Geschichte. Ich bin nicht mein Schmerz. Ich bin Liebe – und war es immer schon. Und in diesem Erkennen beginnt das wahre Leben.
Und wenn du irgendwann das Gefühl hast, verloren zu gehen - erinnere dich, dass du dich selbst nie verloren hast.
Holger Carstens